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Jaguar und Neinguar – als PDF

3.2 "Jaguar und Neinguar". Tendenzen der gegenwärtigen Kinderlyrik
(2021 noch nicht veröffentlicht).


 

Kluge Katze

Trinkt unsere Katze abends

So ein, zwei, drei Glas Bier,

dann kriegt sie einen Kater.

Das weiß das kluge Tier.

 

Ein Tiergedicht, ein Wortspiel, ein Witz als Pointe. Es stammt aus Paul Maars

Jaguar und Neinguar (2007)

 

Es wird wieder Kinderlyrik veröffentlicht. Hat dazu auch der Josef-Guggenmos-Preis beigetragen, der seit 2016 dreimal vergeben wurde? Der Österreichische Staatspreis für Kinderlyrik (1993 bis 2007), verliehen für das Lebenswerk,wurde (mangels geeigneter KandidatInnen?) ohne Angabe von Gründen eingestellt. Nun gibt es wieder eine Auszeichnung für deutschsprachige AutorInnen, allerdings für ein Einzelwerk, 2020 für ein ganz schmalesan die Schweizerin Leta Semadeni. Sogar die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat sich erstmals aufs Gebiet der Kinderliteratur begeben und zusammen mit der Stiftung Internationale Jugendbibliothek in München und der Stiftung Lyrik Kabinett eine Gruppe von AutorInnen und IllustratorInnen zu einem Workshop eingeladen und die Ergebnisse veröffentlicht: Ein Nilpferd steckt im Leuchtturm fest. Tiergedichte für Kinde (2018) Der renommierte Beltz&Gelberg Verlag, seit mehreren Jahrzehnten Vorreiter auf dem Gebiet der Kinderlyrik, hat nach dem letzten von Hans-Joachim Gelbergselbst zusammengestellten Wo kommen die Worte her? (2011) wieder eine Anthologie veröffentlicht: Lyrik-Comics (2019). Ganz selten schafft es fremdsprachige Kinderlyrik auf den deutschen Markt wie Der beste Tag aller Zeiten (2013). Nun kommt der voluminöse Band mit Übersetzungen aus dem Amerikanischen: Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht! (2019). Nonsens-Lyrik kompakt, fast 150 Texte, übersetzt von über 100 renommierten deutschen LyrikerInnen Und soeben erscheint eine weitere Textsammlung mit dem Mut machenden Titel Und jeden Morgen ein Gedicht (2019). Sie geht möglicherweise zurück auf ein Seminar an der Universität Siegen. Ausgehend von der Frage, ob und warum Kinder Gedichte brauchen, ging es um didaktische Konzeptionen der Textvermittlung; die einfache Lösung: Gedichte vorlesen. Was in den fünfziger Jahren in den Grundschulen üblich war: der Unterricht beginnt mit einem Lied oder einem Gedicht, das hat heute den Charme des Innovativen. In den letzten Jahren ist eine große Zahl von Anthologien erschienen, aus denen für jeden Tag ein neues Gedicht ausgewählt werden könnte; der Fundus würde für mehrere Jahre reichen. Früher hatte allerdings jeder Schulbuchverlag eine eigene Anthologie zur Ergänzung des Lesebuchs im Programm; das rechnet sich heute offenbar nicht mehr. Aber so war die Idee der Siegener nicht gemeint: es wird beklagt, "die jüngere Generation der Lyrikerinnen und Lyriker scheint im Verborgenen zu dichten" (Und jeden Morgen 14). Deshalb soll die neue Anthologie nicht eine Blütenlese mit Texten aus verschiedenen Epochen sein, sondern stattdessen nur Erstdrucke bzw. Nachdrucke von aktueller Kinderlyrik enthalten. Schaut man genau hin, macht man aus der Not eine Tugend: da es immer schwieriger wird, einen Verlag für eine Monographie zu finden, also die Möglichkeit, Texte in einem eigenen Buch zu veröffentlichen, schließen sich mehrere Leidtragende zusammen. Das hat den großen Vorteil, dass man die aktuellen Trends der Kinderlyrik gut beobachten kann.

 

Manchmal hat man den Eindruck, den größten Spaß haben die AutorInnen selbst an ihren Texten. Das Spiel mit der Sprache scheint dazu zu führen, das Schreiben von Kinderlyrik selbst für ein Spiel zu halten. Oder glaubt Manfred Schlüter, dass außer ihm und ein paar belesenen Eltern jemand der Wegbeschreibung (Und jeden Morgen 105) folgen kann?

                                           ….

Wanderst durch den Wunderwald,

machst beim Lalula kurz Halt.

Durchschwimmst den flinken Flunkerfluss.

Gibst flugs der Flunder einen Kuss.

Bläst beim Bli-Bla-Blubberbusch

Einen Kuddel-Daddel-Tusch.

….

Kleine Ratehilfe des Autors am Schluss: in Erinnerung an die großen Dichterkollegen Erich Fr., Christian M. und Joachim R. Darf die Frage gestellt werden, auf die Gefahr hin, als pädagogischer Nörgler abgetan zu werden, ob Kinder, sagen wir bis zum 10. Lebensjahr einen Großteil der Gedichte verstehen können? Auf dem Cover heißt es doch "Neue Kinder­gedichte". Wenn sie in dem Alter sind, sie zu verstehen und ohne Hilfe lesen zu können, dann brauchen sie keine Kindergedichte mehr. Für welche Kinder schreibt Judith Holofernes, wenn sie unter dem Titel Schaf Heine zitiert Denk ich an Deutschland in der Nacht? (Holofernes ohne Seitenzählung)

 

Das Siegener Konzept wird im Vorwort erläutert: Was Kinder angeblich brauchen und wollen sind zunächst Tiergedichte. Warum eigentlich gerade Tiergedichte? Dabei geht es doch bei fast der Hälfte aller Texte gar nicht um Tiere, sondern um Spielfiguren. Was sollen sich Kinder unter dem Hüpfgraser oder dem Dilokrok (Michael Augustin, Und jeden Morgen 23) vorstellen oder dem Spaghettisoßentier (Susan Kreller, Und jeden Morgen 64). Es ist jedenfalls nicht ganz einsehbar, wieso dabei "die Kinder viel Neues über die Tierwelt" (Und jeden Morgen 11) lernen, z.B. dass die Maden in Marmelade baden (Michael Augustin, Und jeden Morgen 18). Die Konzeption wird auf den einfachen Nenner gebracht: "Es geht nicht um pädagogische Fingerzeige, sondern es geht um Sprache und eben um das, was man mit Sprache machen kann." (Und jeden Morgen 13) Das war schon in dem Münchener Experiment die leitende Idee. Wenn Sprache sich aber verselbständigt, von der Realität getrennt wird, gerät sie und mit ihr das Gedicht in eine Scheinwelt, in ein poetisches Konstrukt. Das Spiel wird zur Spielerei, gerät zur Beliebigkeit. Nils Mohl (Und jeden Morgen 81) gibt folgende

schnellanleitung

ein klangvolles wort

zum beispiel sternschnuppenlicht

ein halbes lächeln – zack!

fertig ist das blitzgedicht

Und wenn kein Geistesblitz kommt, muss es auch ohne gehen!

Das Ergebnis sind dann Bücher wie Die Kürbiskatze kocht Kirschkompott von Elisabeth Steinkellner (2016), ein ABC Buch, schon wieder ein Tierbuch. Warum? Gänse gabeln gern Gemüsegratin oder Läuse lieben Lachs mit Lebertran. Diese selbst gefundenen Beispiele könnte jeder in beliebiger Zahl hinzufügen, wenn er das einfache Bauprinzip erkannt hat. Gehörte es nicht mal zur Tugend des Dichters, nach dem einzig richtigen Wort zu suchen und sich nicht mit irgendeinem zufriedenzugeben?

Sprache hat neben der Funktion, dass man mit ihr spielen kann, gerade für Kinder die wichtige Aufgabe, sich seiner selbst und der eigenen Lebensumwelt bewusst zu werden. Sprachspielereien setzen voraus, dass die Sprachmuster erstmal gefestigt sein müssen; nur dann können Abweichungen wahrgenommen werden und den Spaß bieten, den die Nonsens-Verse versprechen. Aber auch beim Nonsens gibt es Qualitätsunterschiede,wie es gute und schlechte Witze gibt. Sehr schmal ist der Grat zwischen Unsinn und Blödsinn. Wie z.B. in Arne Rautenbergs schneckensterne (Und jeden Morgen 99) oder in seinem

                                                      trost im abendlicht

                                                      den gelben luftballon

                                                      erfasst ein wind

 

                                                      drum weine nicht

                                                      drum weine nicht      

                                                      denn der mond wünscht sich

                                                      heut nacht ein kind (Und jeden Morgen 96)

 

Was unterscheidet Paul Maars Wortspiel "Jaguar und Neinguar" von Heike Nieders "TigER und TigSIE" (Und jeden Morgen 89) ? Hier fällt einem das Baumuster, der Gag sofort ins Auge, im andern Fall versteht man ihn zunächst gar nicht. Nicht sehr einfallsreich wurde Paul Maars Das Faultier (38) noch zweimal zum Akteur gemacht: in dem ausladenden, zwei Seiten langen Text bei Jan Koneffke (Und jeden Morgen 53) und noch einmal bei Holofernes auf der letzten (ungezählten) Seite von Du bellst vor dem falschen Baum. Die "Tier-zwei=Zeiler" von Paul Maar funkeln von Esprit, wenn man sie mit vielen neuen Kopien vergleicht. Auch im Nonsens muss man handwerkliches Können erwarten. Rhythmisches Holpern und Reimzwang können grundsätzlich nicht mit absichtlicher Ironisierung entschuldigt werden. Was werden Sie denn jetzt so blasse? damit es sich auf Krankenkasse reimt (Susan Kreller, Und jeden Morgen 62). Auf der Empfehlungsliste des Guggenmos-Preises 2020 steht Aus dem Schatten trat ein Fuchs (2019) von Einar Turkowski mit sehr interessanten Illustrationen. Es wird aber kein Bilderbuch-Preis vergeben, sondern literarische Qualität ist gefragt.

 

Der Mond in den Zweigen.

Die Schatten so schummrig.

Ein Vogel erwachte.

Er zwitscherte sachte.

Auch ihm war nach Farbe.

Doch die Nacht war noch jung.

Und er wusste es gleich.

Diese Farbe war sein.

Wollte er noch verweilen.

Diese Nacht war nicht sein.

 

Solche Lyrik auf Stelzen sollte nicht prämiiert werden.

 

Nonsens ist intellektuelles Vergnügen, das nicht durch mühsames Verknüpfen von disparaten Elementen ohne Bezug zur Realität ausgelöst werden kann. Nonsens lebt vom Einfall, er muss über eine kurze Distanz tragen und schließlich in einer zündenden Pointe gipfeln. Sie vermisst man häufig. Das Gedicht "verleppert" am Ende oder es hat sich unterwegs schon totgelaufen; Redundanz hat den Einfall zunichtegemacht wie z.B. bei Janisch (Und jeden Morgen 441)

 

                                                      Träume

 

                                                      Schlittschuhkrähen und Nashornmöwen

                                                      träumen am liebsten von Eisbärlöwen

 

                                                      Fußballmäuse und Tigerfliegen

                                                      träumen am liebsten von Zebraziegen

Es folgen noch zwei Strophen nach diesem Muster.

 

Neben den Tieren gäbe es auch Geister und Vampire, Graf Dracula und Batman, heißt es weiter im Vorwort, und auch nach Gott fragen die Gedichte. Ob er aufs Klo muss und Tattoos auf dem Po hat, will Jan Koneffke wissen (Und jeden Morgen 59), und Matthias Kröner: Manchmal glaube ich schlicht / du hast diese Welt verlassen / doch nicht alle Tassen / im Schrank / zurückgelassen. (Und jeden Morgen 75) Das konnte Ringelnatz schon besser! Niemand erwartet religiöse Erziehung durch das neue Kindergedicht, aber es sollte auch nicht "aus Spaß" den Respekt vor Religionen vermissen lassen.

 

Wo bleiben eigentlich die Kinder mit ihren alltäglichen Problemen? Leiden sie nicht unter dem Mobbing in den Klassen? Haben sie keine Angst vor dem Versagen in der Schule? Wie verkraften sie den Spagat zwischen den geschiedenen Elternteilen? Wie verarbeiten sie die Differenz zwischen ihrer Realität und der medial vermittelten, wie sie in Fernsehen und Videospielen auf sie einwirkt? Das habe mit Literatur nichts zu tun und mit Lyrik schon erst recht nicht? Sind sie nur Spaßkonsumenten und werden mit Joke auf die Comedy-Sendungen des Fernsehens vorbereitet, die übrigens das Gegenteil von Kabarett sind? Aufklärung war dessen Erkennungsmerkmal, Wegmarken im Alltag setzen, dass einem das Lachen im Hals stecken blieb, nicht nur Show für einen netten Abend.

 

Was kennzeichnete die "goldenen Zeiten" (Gutzschhahn) zwischen 1970 und 2000? Schon in die 60er und 50er zurück reichen Namen wie Krüss und Guggenmos. Peter Hacks und Hans Manz sind zu nennen und Jürgen Spohn und Christine Nöstlinger, um nur wenige Namen in Erinnerung zu rufen aus der großen Zahl bedeutender Autoren. Zu schweigen von der Kinderlyrik der DDR. Gedichte hatten einen Inhalt und nicht nur eine sprachliche Spielform. Sie waren Kindern verständlich, weil von ihrer Lebenswelt die Rede war. Es war durchaus nicht nur eine heile Welt, die ihnen vermittelt werden sollte. Vielmehr wollten sie Kindern helfen, sich zurechtzufinden in ihren Problemen, neue Einsichten zu gewinnen und Urteile begründen zu können. Natürlich braucht es keine "pädagogischen Fingerzeige", natürlich sollen Gedichte nicht fertige Antworten geben, aber beim Artikulieren von Fragen, beim Verdeutlichen von Problemen können sie wichtige Hilfen leisten. Auch historische, soziale, philosophische, politische Themen wurden ihnen zugänglich gemacht. Ein zentrales Verfahren lyrischen Sprechens, die Metaphorik wurde auf ihrem Verständnisniveau genutzt. Man ist heute noch fasziniert von der sprachlichen Sorgfalt, mit der ihre Texte geschrieben wurden, von der Ernsthaftigkeit, die sich hinter dem Spiel der Gedanken verbarg. Das Gedicht ist per definitionem eine kurze Form, die von der Pointe lebt, vom Einfall, vom Witz. Was nicht in wenigen Zeilen gesagt wird, verliert schnell an Interesse beim Leser. Andererseits gab es erzählende Gedichte, dezidiert lehrhafte auch. So lässt Dieter Mucke die Henne, der die Küken weggelaufen sind, zufrieden auf Eiern auf Gips sitzen. Mehrere Deutungen bieten sich an: Mütter lieben ihre Kinder am meisten, wenn sie klein und lieblich sind und noch keinen eigenen Willen haben. Dass Mucke, dessen Die einfältige Glucke 1977 in der DDR erschien, auch das System im Blick hatte, ist zu vermuten. Wie kurz und pointiert konnte Frantz Wittkamp 1987 eine Situation auf den Punkt bringen, die jedes Kind kennt.

 

Da sitzt er in der Kammer.

Kein Mensch will ihn besuchen.

Er ißt mit lautem Jammer

Allein den ganzen Kuchen.

(Wittkamp 75)

 

Ein Erzählkern, der Kinder zum Entfalten von phantasievollen Geschichten anregt. Diese knappe Retrospektive zeigt, dass man sich nicht mit zweitrangiger Kinderlyrik zufriedengab, weil sie ja nur für Kinder gedacht war. Die Qualität von Kinderliteratur und Kinderlyrik zeigte sich darin, dass auch Erwachsene durch sie bereichert werden. Umgekehrt wäre zu fragen: Können auch Gedichte für Erwachsene Kinder erreichen? Bereits in den "goldenen Zeiten" setzte eine Entwicklung ein, die die Textauswahl der zahlreich erscheinenden Anthologien bestimmte. Es war u.a. Gutzschhahn, der zwischen 1988 und 1991 mit der Reihe RTB Gedichte das Neue beförderte: Die zwölf Bändchen mit Texten von Grass, Kunert, Pastior u.a. sind ein markantes Zeichen für den Wandel geblieben. Erinnern wir uns, dass Ute Andresen fürihre Anthologie Im Mondlicht wächst das Gras (1991) nur Erwachsenenlyrik ausgewählt hatte. Auch Gelberg modifizierte seine Auswahlkriterien, indem er in Großer Ozean (2000) mit dem bedeutsamen Untertitel Gedichte für alle Texte aufnahm, die Kindern nicht oder nur schwer zugänglich sein dürften. Ob die opulent illustrierten Balladen aus dem Kindermann Verlag ("Poesie für Kinder" ab 4 Jahren seit 2005) nicht eher die Erwachsenen erreicht haben, sei dahingestellt. Man ist erstaunt, wie früh dieser Trend auch in die Schulen getragen wurde. Dankmar Venus provozierte mit der Frage: Celan im vierten Schuljahr? (1961). Nichts ist einzuwenden gegen Erwachsenengedichte, die Kinder sich erobert haben: die Anthologien wären arm ohne Matthias Claudius und Mörike, ohne Morgenstern und Ringelnatz. Aber es dürfen nicht Texte sein, mit denen man sich nuran die erwachsenen Käufer und Sammler kunstvoll illustrierter Bücher richtet, sondern sie müssen für Kinder erreichbar sein. Nichts ist einzuwenden gegen Nonsens und Sprachspiel; sie gehören seit eh und je zum festen Bestand der Lesebücher.

 

Kehren wir zurück zu der Frage nach den gegenwärtigen Trends in der Kinderlyrik! Warum traut sich heute niemand, von Kindern zu sprechen in den Gedichten statt von Pseudotieren? Warum wird nicht mehr erzählt in den Kindergedichten? Wie kann es sein, dass seit ein paar Jahren ein bestimmter Typ von Kindergedichten den Markt beherrscht? Zurück zum ursprünglichen Siegener Anliegen, Kinder an ihre Gedichte und an Literatur überhaupt heranzuführen: Was soll man Kindern jeden Morgen vorlesen? Was sollten sie auswendig lernen? Weil sie es wollen, nicht weil sie es müssen. Woran sollten sie sich nach zwanzig, dreißig Jahren erinnern?

 

Steht hinter dem gegenwärtigen Trend in der Kinderlyrik ein neues Programm? Man muss akzeptieren: die Texte spiegeln genau die Wahrnehmungen von Kindern, die nicht mehr vertraut sind mit Tieren in der Natur, mit Pflanzen und Bäumen, mit dem Wechsel der Jahreszeiten und Naturereignissen. Um sich die verlorene Tradition zu vergegenwärtigen, werfe man einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis von Paul Faulbaums Schulanthologie Sonniges Jugendland von 1969, die erstmals 1922 erschienen war. Darin findet man im Kapitel "Kommt in den Wald" 21 Gedichte, außerdem 30 Frühlingsgedichte und entsprechend viele andere Jahreszeitengedichte. Besonders nostalgisch mutet das Kapitel "Das ist unsere ganze Familie" an. Dass es diese heile Welt nicht mehr gibt, mag man bedauern. Die Realität der Kinder sieht heute total anders aus. Die Kinder vor dreißig Jahren stammten zwar aus verschiedenen Milieus und hatten dementsprechend Zugang zu Kindergedichten, aber die Verständnisgrundlage war einheitlicher. Heute gibt es Kinder, die in literarisch gebildeten Familien aufwachsen und andererseits jene, die mit Gedichten nichts anfangen können, entweder weil sie aus prekären Verhältnissen kommen oder weil sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Kinder sind nicht mehr vertraut mit der deutschen Märchentradition, um das Verwirrspiel in dem ursprünglich amerikanischen Alle auf einmal (Nesbitt 32) verstehen, geschweige denn genießen zu können. Der immer wieder erhobene Vorwurf, die Schule zerstöre die angeborene Liebe der Kinder zu Gedichten, speziell zur Komik, wie er wieder von Michael Krüger im Vorwort zur Anthologie von Nesbitterhoben wird, folgt einem nie bewiesenen Argumentationsmuster.Vielleicht wird unter dem Eindruck dieses Phänomens die dringende Notwendigkeit schulischer kultureller Bildung deutlich, die ansatzweise dazu beitragen kann, die Diskrepanzen zu überwinden. Literarische Erziehung kann nicht etwas zerstören, was gar nicht vorhanden ist; sie muss vielmehr versuchen, erst die Voraussetzungen zu kultureller Teilhabe anzubahnen. Ob das allein mit dem gegenwärtigen Trend, einer Flut von Nonsens-Gedichten erreichbar ist, muss in Frage gestellt werden. Hat dies mit dem Phänomen "Verschwinden der Kindheit" zu tun? Erwachsene projizieren ihre Vorstellungen aus ihrer Erfahrungswelt auf die Kinder, wie sich das in der neuen Kinderlyrik abbildet.

 

Heute haben Kinder ihre Kuscheltiere, die oft nicht echten Tieren ähnlich sind. Sie kennen die Comic-Figuren und die idealisierenden Märchenfilme aus dem Fernsehen. Ihre Vorstellungen sind so disparat wie die mit Versatzstücken beliebig zusammengestellten neuen Gedichte, auf hedonistischem Spaßniveau. Nichts ist wichtig in dieser neuen Kinderlyrik. Es werden keine Fragen gestellt, keine Einschätzungen, was falsch oder richtig sein könnte, weil ja alles sich in einem experimentellen Prozess befindet und Identitätsbildung nicht angestrebt wird. In postmoderner Unverbindlichkeit wird auch nicht nach Realität gefragt, denn die wird als Konstrukt verstanden und als Medienprodukt vermittelt. Die Erklärungsmuster haben sich auf dem Hintergrund gewandelter Kindheiten geändert.

 

 

 

Andresen, Ute. Hrsg.: Im Mondlicht wächst das Gras. Gedichte für Kinder und alle im Haus. Ill. Dieter Wiesmüller.- Ravensburg: Maier 1991

 

Budde, Nadia: Krake beim Schneider. Tierische Zweiteiler. Ill. Nadia Budde.- Wuppertal: Hammer 2019

 

Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung u.a. Hrsg.: Ein Nilpferd steckt im Leuchtturm fest. Tiergedichte für Kindemit Illustrationen von Nadia Budde u.a. - München: Mixtvision 2018

 

Faulbaum, Paul. Hrsg.: Sonniges Jugendland. Gedichte für Kinder.- Hannover: Zickfeldt 1922, 14. neubearbeitete und ergänzte Auflage 1969

 

Gelberg, Hans-Joachim. Hrsg.: Großer Ozean. Gedichte für alle. Bilder, Fotos, Illustrationen.- Weinheim: Beltz & Gelberg 2000

 

Gelberg, Hans-Joachim.Hrsg.: Wo kommen die Worte her? Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Gedichte und Bilder aller Art. - Weinheim: Beltz & Gelberg 2011

 

Gutzschhahn, Uwe-Michael. Hrsg.: RTB Gedichte. 12 Bände.- Ravensburg: Maier 1989 - 1991

 

Gutzschhahn, Uwe-Michael, Jana Mikota und Berbeli Wanning. Hrsg.: Und jeden Morgen ein Gedicht. Neue Kinderlyrik von 12 Autoren. Mit Zeichnungen von Anna Brandes.- Siegen: universi 2019

 

Holofernes, Judith: Du bellst vor dem falschen Baum. Ill. Vanessa Karré.- Stuttgart: Tropen 2015

 

Kreller, Susan. Hrsg.: Der beste Tag aller Zeiten. Ill. Sabine Wilharm.- Hamburg: Carlsen 2013

 

Maar, Paul: Jaguar und Neinguar. Ill. Ute Krause.- Hamburg: Oetinger 2007

 

Mucke, Dieter: Freche Vögel. Ill. G.RuthMossner.- Berlin: Kinderbuchverlag1977

 

Nesbitt, Ken. Hrsg.: Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht! Ill. Christoph Niemann.- München: Hanser 2019

 

Schweizer, Stefanie. Hrsg.: Lyrik-Comics. Gedichte, Bilder, Klänge. Bilder von Max Fiedler u.a., Klänge von Jörg Isermeyer u.a.- Weinheim: Beltz&Gelberg 2019

 

Semadeni, Leta: Tulpen. Tulipanas. Ill. Madleine Janett.- Schweizerisches Jugendschriftenwerk 2019

 

Steinkellner, Elisabeth: Die Kürbiskatze kocht Kirschkompott. Ill. Michael Roher.- Innsbruck: Tyrolia 2016

 

Turkowski, Einar: Aus dem Schatten trat ein Fuchs. Ill. Turkowski.- Hildesheim: Gerstenberg 2019

 

Venus, Dankmar: Celan im vierten Schuljahr? -Westermann Pädagogische Beiträge 13 (1961) 446 – 450

 

Wittkamp, Frantz: Ich glaube, daß ich ein Vogel bin. Verse und Bilder.- Weinheim: Beltz & Gelberg 1987

 

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